Palliative Care-Geschichten


In meinen Schulungen und Beratungen erzähle ich viele Geschichten – meine persönlichen Pflege-Erlebnisse mit unheilbar kranken Menschen und ihren Familien. Diese brechen die teilweise abstrakte Theorie anschaulich herunter und bringen sie auf den Punkt. Und sie bewegen – mich und meine Zuhörenden.


Gerne teile ich einige mich prägende Erlebnisse aus der Palliative Care mit Ihnen. Sämtliche Situationen wurden anonymisiert. Parallelen zu Ihnen bekannten Personen sind zufällig.


Die alte Mutter am Bett der jungen Tochter
Frau Müller hat die vergangene Nacht trotz ihrer 85 Jahre im Zug verbracht, der sie aus einer grossen europäischen Stadt ans Krankenbett ihrer Tochter gefahren hat. Kein Auge hat die Mutter zugetan. In sich zusammengesunken sitzt sie am Bett ihrer sterbenden Tochter, die Augen tränenerfüllt. „Wenn ich doch nur für sie gehen könnte! Es darf doch nicht sein, dass man sein eigenes Kind überlebt!“
Ich lege die Hand auf ihre Schulter. Es gibt Momente, da gibt es nichts zu sagen. Ich gehe mit ihr ein Stück ihres Weges durch die Ohnmacht.


Der Wert der Familie
Herr Kahraman kam als kleines Kind aus Syrien in die Schweiz. Er ist verheiratet mit einer Frau aus seinem Heimatland, die kein Deutsch spricht. Die beiden haben drei kleine Kinder. Er arbeitet als Verkäufer bei der Migros. Vor zwei Jahren wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert. Er hat bereits Metastasen (Ableger) und kann nicht mehr geheilt werden.
Herr Kahraman ist seit einer Woche auf unserer Bettenstation. Beim Eintritt ging es ihm schlecht – er hatte Schmerzen, Atemnot und war körperlich sehr reduziert. Zudem plagten ihn Ängste bezüglich seiner Zukunft. Er möchte gesund werden und zu seiner Familie schauen können. Die Schmerzen, die Angst und die Atemnot bekommen wir therapeutisch gut in den Griff. Herr Kahraman wird aber immer schwächer. Es zeichnet sich ab, dass er bald sterben wird.
Ich komme auf den Frühdienst, die Nachtwache ist verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Die Angehörigen (Ehefrau, Schwester und Schwager) seien seit 48 Stunden ununterbrochen beim Patienten, essen und trinken kaum, schlafen nicht. Sie haben trotz intensiver Aufklärung durch den Arzt an den Vortagen die ganze Nacht immer wieder geläutet und gefragt, ob man denn nicht noch eine Therapie machen könne.
Ich gehe ins Zimmer – da kommt schon wieder eine Neue: Misstrauen schlägt mir entgegen. Da die Ehefrau und die Schwester kein Deutsch sprechen und der Schwager im Tessin wohnt, läuft die Kommunikation über ihn auf Italienisch. Aus dem Bauch heraus sage ich dem Schwager, dass ich den Patienten so betreuen werde, wie wenn er mein Vater wäre. Er übersetzt. Die Frauen strahlen mich an – das Eis ist gebrochen. Intuitiv habe ich einen wichtigen Wert der Ursprungskultur der Angehörigen angesprochen, nämlich die Familie. Im weiteren Verlauf des Tages kommunizieren wir weiter über den Schwager, aber vor allem über Blicke und Berührungen, die oft mehr sagen als tausend Worte.
Die letzten Stunden verbringt Herr Kahraman in ruhiger, gelöster Atmosphäre im Kreis seiner Nächsten. Ich kontrolliere mit Medikamenten und meiner Präsenz seine Symptome und bin da für die Angehörigen. Er leidet nicht und schläft friedlich ein.


Noch nie hat mich jemand gefragt, wie es mir geht
Herr Walter hat weit fortgeschrittenen Prostata-Krebs. Er tritt in Begleitung seiner Ehefrau ins Spital ein, da er seit langem Schmerzen hat und schlecht schläft. Als ich die Ehefrau darauf anspreche, wie es ihr gehe, bricht sie in Tränen aus und sagt: „Wissen Sie, mein Mann ist jetzt seit fünf Jahren krank. Aber Sie sind die erste, welche mich fragt, wie es mir geht.“ In der Palliative Care stehen neben dem Patienten auch die Angehörigen im Fokus. Ein soziales System ist wie ein Mobile, das sich gegenseitig beeinflusst.


Mama wird ein Engel
Frau Haller ist meine Patientin – gleich alt wie ich, wie ich Mutter von einem Kind im selben Alter. Sie hat einen unheilbaren Hirntumor und kann sich nicht mehr selbständig bewegen. Auch das Sprechen fällt ihr zunehmend schwer. Ich führe mit ihr immer wieder kurze Gespräche über das Loslassen – und wie schwierig es ist, als Mutter ein Kind zurückzulassen. Ich bin da. Ich höre zu. Ich spiegle ihre Äusserungen. Ich halte das Unfassbare mit ihr aus. Ihr Kind wird von der Grossmutter betreut. Sie bereitet es auf den Tod der Mutter vor: „Mama wird bald ein Engel sein.“